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"Im Cyberspace kommt alles, was mir Sex zu tun hat, direkt nach allem, was mit Arbeit und Geldverdienen zu tun hat. Wie noch jede neue Technik ist diese sofort von den beiden menschlichen Basisbedürfnissen in Dienst genommen worden. Das Doppelinteresse, sich ökonomische und sexuelle Vorteile zu verschaffen, dominiert wie in der Wirklichkeit auch in den virtuellen Realitäten". (134) Es scheint so, als sei Sex in den Datennetzen omnipräsent. Zumindest nimmt im öffentlichen Diskurs über das Online-Zeitalter kein Thema mehr Raum ein als dieses. (135) In den Vordergrund rückt dabei häufig die Kinderpornographie-Debatte. Auch wenn, oder gerade weil Sex im Cyberspace mit all seinen schockierenden und ekelerregenden Varianten ein weit verbreitetes Phänomen ist, sollte die Diskussion darüber auf einer sachlichen Ebene geführt werden.
Zwei Themenschwerpunkte sind bei der Diskussion über die Gefährdung von Kindern durch Sex im Internet auseinanderzuhalten: (136)
Welche Typen von sexuellen und pornographischen Inhalten sind im
Internet in welchem Umfang vorhanden, und über welche technischen Kanäle
werden sie verbreitet? Schetsche ist diesen Fragen nachgegangen.
Im Zeitraum von Juni bis September 1996 hat er in einer explorativen Studie
rund 1000 Pornobilder aus dem Internet analysiert. (141) Die Untersuchung ließ
ihn zu folgenden Schlußfolgerungen kommen: "Es gibt keine Pornobilder im
Internet, die man(n) nicht auch auf anderem Wege erhalten könnte." (142)
Und: "Unter Jugendschutzaspekten unterscheidet sich das Internet
in nichts von anderen Medien: Kinder, die wissen möchten, was es mit diesem
Stoff denn nun auf sich hat, finden das Pornoheft des großen Bruders,
Papis Videokassetten und nun eben auch den Link im Internet.
Schon immer galt hier: Wenn die Kinder in ein Alter kommen, in dem
sie das Material interessiert, sind sie auch alt genug, es zu finden." (143)
Schetsche untersuchte aus Newsgroups stammende Nacktfotos sowie auf
WWW-Seiten veröffentliche Bilder. In die Analyse ging sowohl Material
von frei zugänglichen Homepages ein als auch solches von Seiten,
die mittels Altersverifizierungssystemen (AVS) vor dem Zugriff
durch Minderjährige geschützt sind. (144) Er teilte die Art des
gefundenen Materials nach juristischen Kriterien in vier Kategorien ein:
Schetsche schlüsselte das Material nach den drei verschiedenen Zugangskanälen Newsgroup (NG), frei zugänglichen WWW-Seiten sowie AVS-geschützten Sites auf (vgl. Abbildung 1.11).
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Auffallend in Schetsches Aufschlüsselung ist der verschwindend geringe Prozentsatz kinderpornographischen Materials. "Nur wer mit Ausdauer und Nachdruck sowie einigem Insiderwissen sucht, wird auch fündig." (147) Dieses Ergebnis steht im krassen Gegensatz zu den Erkenntnissen Bingüls und Drewes'. Schetsche gesteht allerdings ein, daß er nicht systematisch nach kinderpornographischen Darstellungen gesucht hat. Dietz-Lenssen bemängelt denn auch, daß Schetsches Datenmaterial nicht repräsentativ sei und referiert die Ergebnisse eigener Stichproben. (148) Daraus ergibt sich, daß insbesondere in Newsgroups eine Vielzahl kinderpornographischer Darstellungen kursieren. Zuletzt wertete der Mainzer Ethnologe im Januar 1998 das komplette Newsgroup-Bildarchiv eines amerikanischen Anbieters aus und fand dabei an 1300 Stellen kinderpornographische Fotos. Er schränkt jedoch ein: "Diese Zahl mag absolut gesehen entsetzen - in Relation zu allen pornographischen Darstellungen im Netz (...) macht sie weniger als 1 0/00 aus." (149)
Viele Sex-Sites im World Wide Web sind kommerziell ausgerichtet. Auf dem frei
zugänglichen Teil dieser Homepages finden sich lediglich einige Bilder,
die neugierig machen sollen. Sie zeichnen sich oftmals durch schlechte
Qualität aus und werden häufig mittels digitaler Bildbearbeitung verfremdet.
Wer mehr und bessere Bilder sehen will, muß Mitglied werden im
kostenpflichtigen Porno-Club.
In den Newsgroups hingegen kursieren regelmäßig pornographische Bilder,
die sich ohne Gebühr abrufen lassen. Anfang 1998 bezifferte
Dietz-Lenssen die Zahl der Newsgroups, in denen überwiegend sexuell
orientierte Texte und Fotos verbreitet werden, auf 300 bis 500: "Der Inhalt
der Newsgroups bietet wesentlich weniger 'Abwechslung' als die
unterschiedlichen Namen erwarten lassen. Sieht man von den gegenseitigen
Beschimpfungen von Gegnern und Befürwortern einzelner Stilrichtungen,
und der immer größer werdenden Zahl von Hinweisen auf legale
Porno-Homepages (z.T. über 90% des Gruppeninhalts) ab, finden sich
bestimmte Photoserien immer wieder, die (...) mehr oder weniger kontinuierlich
in den einzelnen Gruppen reihum oder auch gleichzeitig (crossposting)
auftauchen. (...) Fast alle dieser Vorlagen sind auch an
normalen Kiosken, im Bahnhofszeitschriftenhandel (notfalls unter der Theke) oder
vereinzelt im Porno-Shop um die Ecke erhältlich." (150)
Auch in Chat-Rooms und MUDs sind über die Computertastatur vermittelte
erotische Gedanken und Handlungen weit verbreitetet. (151) Im Internet-Jargon
wird dieses Phänomen als TinySex bezeichnet. Sofern sich Kinder
intensiv an Diskussionen in Chats und MUDs beteiligen, ist es sehr
wahrscheinlich, daß sie früher oder später mit dieser Form sexueller
Betätigung in Berührung kommen. Nach Beobachtungen von Sherry Turkle
experimentieren Kinder gar selbst ab einem gewissen Alter ganz
selbstverständlich mit ihrem im Entstehen begriffenen sexuellen Bewußtsein:
"Etwa vom zehnten Lebensjahr an umfassen die Sozialkontakte von
Kindern, die in Familien aufwachsen, in denen sie ungehinderten Zugang zu
Computern haben, Online-Flirten, -Knutschen, -Petting, und vollgültigen Sex." (152)
Gefährlich wird es dann, wenn Erwachsene die Unerfahrenheit der
Kinder ausnutzen, sich selbst als Kinder oder unwesentlich ältere
Jugendliche ausgeben und Kinder zum Cybersex verleiten, sich am
Ende gar Anschrift oder E-Mail-Adresse erschleichen. (153)
Deshalb ist es unerläßlich, daß Eltern und Lehrer an den Online-Aktivitäten
ihrer Kinder teilhaben und sie auf kritische Situationen vorbereiten.
Denn eins kann nicht deutlich genug betont werden: Sexueller Mißbrauch
fängt nicht erst bei körperlicher Mißhandlung an. Allein der verbale
Mißbrauch, und sei es auch "nur" in Form elektronischer Botschaften,
kann bleibende emotionale Traumata beim Kind zur Folge haben. (154)
Daß Pädophile gezielt nach Opfern in solchen Diskussionsforen und Chat-Kanälen suchen, die vorwiegend von Kindern und Jugendlichen frequentiert werden, ist bekannt. Drewes verweist auf ein Beispiel aus dem Jahr 1993. Damals hatte ein amerikanischer Pädophiler gar extra eine Mailbox für Fans der Raumschiff-Serie Enterprise eingerichtet, um Kontakt mit Kindern aufzunehmen. (155) Schulziki-Haddouti bilanziert nüchtern: "Kinderpornographie im Internet ist kein Randphänomen. Es geht auch nicht nur um Bilder nackter Kinder, die die Phantasie des Betrachters anregen: Fast immer wurde bei der Herstellung der Bilder ein Kind sexuell mißbraucht. Die Anonymität im Internet wiegt viele Täter in Sicherheit. Über das Netz nehmen sie Kontakt mit Gleichgesinnten auf und suchen nach Abnehmern für ihr Material. In den von Kindern und Jugendlichen frequentierten Chatrooms stöbern sie nach neuen Opfern. Die Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) verzeichnete im vergangenen Jahr 663 Fälle - einen Anstieg um sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr." (156)
Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Softwarefiltern, die Kinder vor inadäquaten Inhalten schützen sollen und sie daran hindern, persönliche Informationen via Modem an Fremde weiterzugeben. Sie werden auf der Festplatte des Nutzers installiert und von den Eltern entsprechend ihren Vorstellungen konfiguriert. Keines dieser Programme funktioniert jedoch einwandfrei. (157) Sich allein auf den elektronischen Babysitter zu verlassen, kann ohnehin keine zufriedenstellende Lösung sein. Vielmehr leistet sie der Entmündigung der Kinder Vorschub, wie einige Autoren meinen, beispielsweise Druin und Solomon: "The question is, who is to decide what is unhealthy and what is not? Some organizations are developing rating systems and some filters, but ultimately that will not stop children from getting at the stuff they shouldn't. Children will go home or over to another child's house whose computer doesn't have a filter. Eventually children will need to understand how to make critical decisions. (...) They will need to understand how to weigh what their needs are and use any information resource with a careful eye." (158)
Pornographie im Internet und vielmehr noch sexuelle Übergriffe durch Pädophile sind also ernstzunehmende Gefahren. Es sei jedoch vor Hysterie gewarnt. Turkle führt die panischen Reaktionen vieler Eltern auf mangelnde Kenntnisse zurück, auf fehlendes Wissen über eine Medienwelt, in der sich ihre Kinder leichtfüßig bewegen. (159) Es geht entscheidend darum, Kindern Medienkompetenz zu vermitteln. Für Eltern heißt dies aber auch, sich selbst erstmal mit dem Internet vertraut zu machen und sich über inhaltliche Entwicklungen auf dem laufenden zu halten. Angesichts der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich die Online-Welt verändert, ist dies sicher keine leichte Aufgabe.
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(134) Freyermuth, Gundolf S.: Cybersex. IN: Bollmann, Stefan/Heibach, Christiane (Hrsg.), a.a.O., S.263-274; hier S.263.
(135) Die Themenkarriere der Pornographie im öffentlichen Diskurs betrachtet eingehend Bärbel Peters, allerdings eher aus einem soziologischen als einem publizistischen Blickwinkel: Peters, Bärbel: Pornographie im Internet. Zur Dynamik eines sozialen Problems. Bremen 1997.
(136) Vgl. Tien, Lee: Children’s Sexuality and the New Information Technology: A Foucaultian Approach. IN: Social & Legal Studies 3/1994, S.121-147.
(137) § 184, Absatz 3 StGB stellt die Verbreitung pornographischer Materialien unter Strafe, "die Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben". Seit 1993 ist schon allein der Besitz illegal.
(138) Drewes, Detlef: Kinder im Datennetz. Pornographie und Prostitution in den neuen Medien. Frankfurt am Main 1995; hier S.148.
(140) Bingül, Birand: Wie ein Cowboy ohne Pferd. IN: Kinderwelten. Veröffentlichung zu einem medienpraktischen Projekt am Institut für Journalistik der Universität Dortmund. Juni 1998, S.15.
(141) Vgl. zu den folgenden Ausführungen Schetsche, Michael: In den Wüsten des Begehrens? Pornographie im Internet. IN: Telepolis vom 5.11.1996. Online im Internet 1996. URL: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/1075/1.html [Stand 22.8.1998] sowie Schetsche, Michael: Sexuelle Botschaften via Internet, a.a.O.
(142) Schetsche, Michael: In den Wüsten des Begehrens, a.a.O.
(143) Schetsche, Michael: Sexuelle Botschaften via Internet, a.a.O., S.248f.
(144)
Solche Altersverifzierungssysteme (Adult Verification Service - AVS)
werden betrieben von kommerziellen Unternehmen. Der Kunde erwirbt einen Code,
der ihm den Zugriff auf Homepages verschiedener Anbieter mit sexuellen Inhalten
erlaubt. Dafür bezahlt er - meist via Kreditkarte - an den Betreiber des
AVS eine monatliche Gebühr von mehreren Dollar. Einer der populärsten Dienste
ist "Adult Check" (http://www.adultcheck.com).
Bei anderen Seiten mit sexuellen Inhalten ist lediglich eine Warnseite
vorgeschaltet. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden aufgefordert,
nicht weiter in das Angebot einzusteigen. Diese Warnung dürfte die Neugier der
Kinder jedoch allenfalls noch beflügeln, und die Barriere läßt sich denkbar
einfach überwinden - mit einem simplen Mausklick.
(145) Schetsche, Michael: Sexuelle Botschaften via Internet, a.a.O., S.242.
(146) Quelle: Schetsche, Michael: Sexuelle Botschaften via Internet, a.a.O., S.243.
(147) Schetsche, Michael: In den Wüsten des Begehrens, a.a.O.
(148) Dietz-Lenssen, Matthias: Anonymus@Sexworld. IN: medien und erziehung 1/1998, S.10-16.
(149) Ebd., S.15. Die Angaben Dientz-Lenssens zur Stichprobe sind undeutlich und mißverständlich. Er führt aus: "Zum Stichtag 6.1.1998 habe ich das Newsgroup-Bildarchiv eines amerikanischen Anbieters systematisch ausgewertet. Es waren keine Informationen darüber erhältlich, wie lange die Bilder in diesem Aufgebot angeboten werden. Ich schätze aber, daß die jüngsten ca. 2 Tage alt waren, die ältesten ca. 10-15 Wochen." Es bleibt unklar, wen oder was Dietz-Lenssen mit "Anbieter" meint, vermutlich eine Firma, die einen Newsgroup-Server betreibt. Er nennt auch nicht die Zahl der untersuchten Newsgroups.
(151) Vgl. Turkle, Sherry: Leben im Netz, a.a.O., S.362ff., ferner Rheingold, Howard: Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. Bonn u.a. 1994, S.118.
(152) Turkle, Sherry: Leben im Netz, a.a.O., S.366.
(153) Turkle, Sherry: Leben im Netz, a.a.O., S.368.
(154) Vgl. Drewes, Detlef: Kinder im Datennetz, a.a.O., S.24.
(156) Schulzki-Haddouti, Christiane: Kinderschänder im Netz. Pornoscanner filzen Festplatten automatisch nach verbotenen Bildern. IN: Die Zeit 14/1998 vom 26.3.1998, S.69.
(157) Vgl. Kapitel 1.5.2.3.
(158) Druin, Allison/Solomon, Cynthia, a.a.O., S.234.
(159) Vgl. Turkle, Sherry: Leben im Netz, a.a.O., S.369; vgl. dazu auch Papert, Seymour: Die vernetzte Familie. Stuttgart 1998, S.86ff.
© Tobias Gehle, 1998
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