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Das Mediennutzungsverhalten von Kindern zu untersuchen, ist ein schwieriges Unterfangen. Sozialwissenschaftliche Erhebungsmethoden stoßen bei Kindern schnell an die Grenzen von Validität und Reliabilität. In diesem Abschnitt diskutiere ich kurz grundsätzliche Probleme, die sich dem Medienforscher beim Umgang mit dem Untersuchungssubjekt Kind stellen. Vor allem gehe ich auf methodische Besonderheiten bei der Befragung von 6- bis 13jährigen ein.
Sehr plastisch beschreiben Petermann und Windmann die praktischen und konzeptionellen
Probleme, die sich bei der Datenerhebung in direkter Interaktion mit Kindern ergeben. (244)
Die Gruppe der 6- bis 13jährigen ist ausgesprochen heterogen zusammengesetzt im Hinblick
auf kognitive und soziale Entwicklungsstufen. "Die Instruktion und die
Versuchsdurchführung sollten möglichst standardisiert sein, das heißt, daß
weder das Versuchsverhalten, noch die Versuchssituation oder die verwendeten Instrumente
von Kind zu Kind variieren dürfen, wenn die erhobenen Daten vergleichbar sein sollen.
Unterschiede im Entwicklungsstatus der Kinder erfordern hingegen oft ein auf
den Einzelfall abgestimmtes Vorgehen." (245) So finde man in dieser
Altersgruppe immense Unterschiede im Sprach- und Abstraktionsvermögen vor.
Und je nach Lerngeschichte, Interessen, Fähigkeiten und Neigungen reagierten
Kinder deutlich unterschiedlicher als Erwachsene auf Untersuchungssituation und
äußeres Setting. Außerdem verändern sich Kinder sehr schnell innerhalb kurzer Zeit.
Mit stabilen Merkmalsausprägungen sei also kaum zu rechnen, wodurch sich ein
weiteres konzeptionelles Problem für die empirische Forschung ergäbe:
"Die Anwendung der klassischen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und
Validität auf die verwendeten Meßverfahren setzt die Annahme voraus,
daß das Merkmal konstant, d.h. im wesentlichen unveränderlich ist.
(...) Im Fall von Erhebungen an Kindern müssen Inkohärenz und Diskontinuität in
den Ergebnissen aber nicht unbedingt auf Meßfehler zurückgehen (...), sondern repräsentieren
(je nach Design der Studie) möglicherweise lediglich qualitative Unterschiede im
Entwicklungsstatus oder aber Kohorteneffekte." (246)
Insbesondere bei der Untersuchung von Kindern sehr unterschiedlichen Alters,
so Petermann und Windmann weiter, sei Vorsicht geboten. Es stelle sich das Problem
der Meßäquivalenz. Damit die Ergebnisse innerhalb einer größeren Altersspanne vergleichbar
sind, könne es sinnvoll sein, auf objektiv inhaltlich verschiedene Meßverfahren
zurückzugreifen, die aber bedeutungsäquivalent sind. Konkret auf die schriftliche
Befragung bezogen hieße das: Wenn Kinder sehr unterschiedlichen Alters befragt
werden, sollten mehrere Fragebögen zur Anwendung kommen, die das unterschiedliche
Sprachniveau der jeweiligen Altersgruppen berücksichtigen.
Bei Studien mit Kindern spielt die Dauer der Untersuchung eine erhebliche Rolle.
Lehrer und Erzieher können ein (Klage-)Lied davon singen, wie schwierig es ist,
die Aufmerksamkeit von Kindern für längere Zeit auf eine bestimmte Sache zu
fokussieren und die Motivation aufrecht zu erhalten. Böhme-Dürr rät deshalb,
daß die Untersuchungsdauer 20 Minuten nicht überschreiten sollte. (247) Allerdings bezieht
sie dies auf die Beobachtung und mündliche Befragung von Kindern im Vorschulalter.
Schriftliche Befragungen sollten meines Erachtens bedeutend kürzer sein, da es
wegen der eingeschränkten Feedback-Möglichkeiten sehr schwierig ist, die Befragten
zum Weitermachen anzuspornen.
Böhme-Dürr weist auch darauf hin, daß Kinder erst ab einem bestimmten Alter überhaupt
in der Lage sind, über ihr Medienverhalten nachzudenken: "Das Medienbewußtsein
(das affektive Einschätzungen und kognitives Wissen über Medien umfaßt)
entwickelt sich erst zwischen vier und acht Jahren, d.h. beim Übergang von
der präoperationalen Phase zur konkret operationalen Phase. (...) Nur wenn
die kognitiv-emotionale Entwicklung so weit fortgeschritten ist, daß Kinder ihre
Aufmerksamkeit zu einem Zeitpunkt auf mehr als einen Aspekt richten können,
sind sie zu Medienreflexionen fähig." (248) Geht es um die Ermittlung von Medienutzungszeiten,
so stellt sich vor allem das Problem des mangelnden Zeitverständnisses bei Kindern
und der noch nicht ganz ausgebildeten Gedächtnisleistungen. (249)
Befragungen sind generell durchaus ein adäquates Mittel, um die Medienwelt
von Kindern zu erforschen. Diese Auffassung vertritt zumindest Gerhard Wittmann,
der Befragungsmethoden besonders dann empfiehlt, wenn es dem Forscher um Einstellungen
und Werthaltungen geht: "Ich bin grundsätzlich der Auffassung, daß Kinder im allgemeinen
in der Lage sind, ihre Gedanken und Gefühle zu beschreiben. Abhängig jedoch vom Grad
ihrer Sprachfähigkeit, ihrer kognitiven Fähigkeiten (wie v.a. ihrem Erinnerungsvermögen),
benötigen sie ein besonderes Interviewverfahren, das es ihnen ermöglicht,
ohne große Anspannung möglichst frei über sich und ihre Vorstellungen von sozialer
Welt zu sprechen." (250) Wittmann bezieht seine Erkenntnis vor allem aus
Erfahrungen mit der mündlichen Befragung von Kindern. Überhaupt scheinen mir
schriftliche Befragungen nicht besonders populär in der Kindheitsforschung zu sein.
Das mag vor allem daran liegen, daß dieser Befragungsmethode die eingangs erwähnte,
bei der Interaktion mit Kindern notwendige Flexibilität abgeht: Im Laufe der
mündlichen Befragung kann sich der Interviewer individuell auf die Sprachfähigkeiten
einzelner Kinder einstellen, bei der schriftlichen Befragung ist dies nicht möglich.
So spärlich die Literatur zum Thema "schriftliche Befragung von Kindern" auch sein mag,
einige grundlegende Kriterien gibt sie doch her. Besonderes Augenmerk wird
auf das angemessene Sprachniveau gelegt. So bemerkt Wittmann: "Um die Schwierigkeiten
im sprachlichen Bereich möglichst gering zu halten, wird immer wieder vorgeschlagen,
die Fragen zu formulieren, wie das Kinder in dem entsprechenden Alter selbst
tun würden. Dazu ist angeraten, Kinder beim Spiel zu beobachten und die
Art und Form ihrer Fragen zu studieren." (251) Das verwendete Vokabular müsse dem
alltäglichen Sprachschatz der Kinder entstammen. Die Interpretation einer Frage
dürfe nicht von Kind zu Kind variieren, und die Fragen sollten nicht auf
eine bestimmte Antwort hinlenken. (252) Gerade weil Kinder die
Sprache sehr uneinheitlich verwenden, warnen Petermann und Windmann davor, die Befragung
als einzige empirische Methode anzuwenden, um Daten über die Mediengewohnheiten von
Kindern zu erheben. Die Autoren raten zur Außenvalidierung, beispielsweise zur
Befragung von Bezugspersonen. (253)
Nicht nur das Sprachniveau, sondern auch der Fragestil ist von erheblicher
Bedeutung bei der schriftlichen Befragung von Kindern. Geschlossenen Fragen ist
der Vorzug vor offenen zu geben, da offene von Kindern häufig boykottiert würden,
so Wittmann: "Kinder gehen zunächst davon aus, daß
es richtige und falsche Antworten gibt. Alle offenen Fragen bzw. Mehrwahlantworten sind
in diesem Sinne für ein Kind verunsichernd, da es meint, es gäbe eine richtige Antwort,
auf die es nun kommen müsse." (254) Einen weiteren für die vorliegende Untersuchung besonders
beachtenswerten Nachteil von offenen Fragen sprechen Schnell u.a. an. Es könne
nicht davon ausgegangen werden, "daß alle Befragten eine gleich gute Artikulationsfähigkeit
bezüglich ihrer Einstellungen und Meinungen haben. Antwortunterschiede sind
mitunter nicht auf Einstellungsunterschiede zurückzuführen, sondern ergeben sich
aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Befragten, ihre Einstellungen in
Worte zu fassen." (255)
Kinder sind auch eher in der Lage, Antworten auf Fragen zu geben, die
sich auf konkrete Handlungen beziehen und nicht auf abstrakte Aussagen zielen.
Um Schwierigkeiten der Kinder mit relationalen Termini zu umgehen (mehr - ziemlich -
überhaupt nicht), können grafische Symbole herangezogen werden, um Ratingskalen einleuchtender
zu gestalten.
Wittmann gibt einige konkrete Anregungen für den dramaturgischen Aufbau eines
Interviews, die sich auf die schriftliche Befragung übertragen lassen: (256)
Gerade bei kleinen Kindern kann es vorkommen, daß sie sich an einer bestimmten Frage festbeißen, weil sie für sie eine besondere Bedeutung hat. Dies kann sich ungünstig auf die Beantwortung der folgenden Fragen auswirken. Vor allem kleine Kinder haben häufig zudem einen ganz spezifischen Antwortstil: Sie beantworten alle Fragen entweder mit "nein" oder "ja". Ältere Kinder neigen manchmal zu extremen Angaben, beispielsweise bei den Mediennutzungszeiten. Auch kann es vorkommen, daß bei schriftlichen Befragungen nur jene Antworten angekreuzt werden, die auf einer bestimmten Fragebogenseite stehen (links oder rechts). (257)
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(244) Vgl. Petermann, Franz/Windmann, Sabine: Sozialwissenschaftliche Erhebungstechniken bei Kindern. IN: Markefka, Manfred/Nauck, Bernhard (Hrsg.): Handbuch der Kindheitsforschung. Neuwied u.a. 1993, S.125-139.
(247) Vgl. Böhme-Dürr, Karin: Schwierigkeiten bei der Erfassung von Mediennutzung und Medienbewertung. IN: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Weinheim/München 1988, S.93-111; hier S.106.
(248) Ebd., S.104f. Böhme-Dürr bezieht sich hier auf das Stufenmodell der kognitiven Entwicklung bei Kindern nach Jean Piaget; vgl. Piaget, Jean, a.a.O.
(249) Vgl. Böhme-Dürr, Karin, a.a.O., S.100f.
(250) Wittmann, Gerhard: Über die Möglichkeit der Befragung von Kindern - Bedingungen und Probleme. IN: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), a.a.O., S.159-173, hier S.160.
(252) Vgl. dazu auch Böhme-Dürr, Karin, a.a.O., S.105, vgl. ferner die Faustregeln, die Schnell u.a. für die Formulierung von Fragen nennen: Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung. 3. Auflage. München/Wien 1992, S.243ff.
(253) vgl. Petermann, Franz/Windmann, Sabine, a.a.O., S.130f.
(254) Wittmann, Gerhard, a.a.O., S.164. Dies gilt im übrigen nicht nur für Kinder. Auch Erwachsene sind eher geneigt, geschlossene Fragen zu beantworten, während sie die Antwort auf offene Fragen häufiger verweigern. Vgl. zu den Vorteilen offener und geschlossener Fragen auch allgemein Atteslander u.a., a.a.O., S.179 ff.
(255) Schnell u.a., a.a.O., S.341.
(256) Vgl. auch die allgemeinen Ausführungen zur Fragebogenstrategie bei Atteslander u.a., a.a.O., S.193ff.
(257) Vgl. Böhme-Dürr, Karin, a.a.O., S.101.
© Tobias Gehle, 1998
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