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Da es unmöglich ist, einzelne Seiten im Internet gezielt zu sperren,
stellt sich die Frage: Wie läßt sich trotzdem gewährleisten, daß Kinder nicht auf
inadäquate Online-Inhalte zugreifen? Wünschenswert wäre eine Art Gütesiegel für
jugendfreie Webseiten, an dem sich Eltern orientieren könnten - ähnlich der (allerdings
rechtsverbindlichen) FSK-Altersfreigabe bei Kinofilmen. Das World Wide Web Consortium (220)
hat hierzu im Mai 1996 eine technische Spezifikation vorgestellt: die
Platform for Internet Content Selection (PICS). (221) Der Standard ermöglicht es,
jedem HTML-Dokument einen elektronischen Stempel aufzudrücken. Dieser besteht
aus einer Folge von Befehlen, die im Quelltext der WWW-Seite (222) untergebracht
werden - unsichtbar für den Betrachter. Der Stempel enthält
Informationen über die Inhalte der Seite. Eine spezielle Software, auf der
lokalen Festplatte installiert, analysiert die PICS-Signatur und blockiert ggf.
den Zugriff. Durch PICS wird ein inhaltliches Bewerten von Internet-Seiten möglich,
"Rating" genannt. Allerdings ist PICS nichts anderes als eine leere technische
Hülle, sozusagen eine vereinheitlichte "Computersprache", die von den
verschiedensten Filterprogrammen interpretiert werden kann.
Wer füllt die PICS-Signatur nun mit Inhalt, und wer versieht die Internetseiten
mit der digitalen Kennung? Zum einen kann der Autor seinem WWW-Dokument selbst
einen PICS-Stempel aufdrücken. Dafür besucht er beispielsweise die Homepage der
amerikanischen Organisation SafeSurf (223). Hier füllt er ein Formular aus,
in dem er die Inhalte seiner Seite beschreibt. Als Ergebnis erhält er automatisiert
eine Befehlsfolge, die er nur noch in sein HTML-Dokument einfügen muß.
Es gibt eine ganze Reihe von Firmen und Organisationen, die Web-Autoren eine
solche Selbsteinschätzung ihrer Seiten ermöglichen. Die Bewertungsstandards der
einzelnen Institutionen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Der
amerikanische Recreational Software Advisory Council (RSAC), der Computerspiele
nach ihrer Jugendtauglichkeit beurteilt, hat auch ein solches Rating-Label:
RSACi ("i" steht für Internet). (224) Es macht Aussagen darüber, ob auf
einer WWW-Seite Gewalt, Nacktaufnahmen, sexuelle Inhalte oder vulgäre
Sprache zu finden sind. Für jedes der vier Themengebiete kann der Autor festlegen,
in welchem Maße seine Seite anstößig ist. In der Kategorie Sex zum
Beispiel sind fünf Abstufungen vorgesehen: "kein Sex - leidenschaftliches Küssen -
sexuelle Berührung, bekleidet - sexuelle Berührung, nicht
freizügig - freizügige sexuelle Vorgänge".
Auf der Nutzer-Seite können die Eltern nun mittels eines passwortgeschützten
Programms, das die PICS-Kennungen liest, den Grad der akzeptablen
Anstößigkeit festlegen. Greift das Kind auf eine Seite zu, deren Inhalte die von
den Eltern vorgegebene Toleranzgrenze überschreitet, meldet der Browser einen Fehler.
Hat eine angefragte Seite keine Kennung, so gibt es zwei Möglichkeiten:
Die Eltern können festlegen, ob der Zugriff in diesem Fall blockiert wird oder eben nicht.
Es gibt verschiedene Programme, die PICS-Label lesen können. Auch manche
Browser unterstützen PICS, so zum Beispiel der Internet-Explorer von Microsoft
ab Version 3.0 (vgl. Abbildung 1.15). (225)
Abbildung 1.15: Der Internet-Explorer unterstützt PICS ab Version 3.0. Das Label des amerikanischen Recreational Software Advisory Council ist vorinstalliert. |
Eine zweite Möglichkeit des Ratings ist die Fremdbewertung: Firmen , allgemeinnützige Organisationen und Vereine sichten Webseiten, bewerten sie und legen eine Liste mit den Seitenadressen und den entsprechenden Bewertungen an. Die Eltern lassen ihre PICS-Software dann auf diese Listen verweisen. Fragt ein Kind nun eine bestimmte Seite an, prüft die Software, ob diese Seite auf der Rating-Liste der Institution verzeichnet ist und ob sie den Vorgaben der Eltern entspricht. Ist das WWW-Dokument nicht auf der Liste, gibt es wieder zwei einstellbare Optionen: Entweder der Zugriff wird zugelassen oder nicht.
Jedes PICS-Label basiert auf den Wertvorstellungen seines "Herausgebers".
Und so müssen die Eltern sich ein System aussuchen, das am ehesten ihren
Ansprüchen genügt. Ein Problem ist natürlich, daß Labels aus verschiedenen Kulturkreisen
sich auch an unterschiedlichen Moralvorstellungen orientieren - was die
Europäische Kommission dazu veranlaßt, sich eindringlich für die Förderung
europäischer Bewertungssysteme einzusetzen. (226) In Deutschland beispielsweise
gibt es noch keine Institution, die ein PICS-Bewertungsschema zur Verfügung stellt.
Im übrigen ist bislang noch keine kritische Masse von WWW-Seiten mit
PICS-Kennung erreicht. (227) So kann es durchaus dazu kommen, daß das Kind
beim Surfen allzu häufig auf die elektronische Sperre stößt und nach
einer Weile entnervt aufgibt.
Eine weitere Unwägbarkeit von PICS: Wie jede Technologie kann auch diese mißbraucht werden,
wenn sie "in die falschen Hände gerät". So könnten totalitäre Staaten an
zentralen Internet-Rechnern ihres Landes PICS-Filter installieren, um
unerwünschte Inhalte fernzuhalten. (228) Aber die Gefahr geht nicht nur von
undemokratischen Systemen aus. Eine Selbstverpflichtung zur PICS-Kompatibilität
bei den einschlägigen Suchmaschinen beispielsweise mag zwar im Sinne
der Political Correctness sein, ist aber ganz bestimmt nicht der
freien Meinungsfreiheit förderlich: "Heute kann der Internetsurfer noch
selbst bestimmen, ob er ein Rating-System in Anspruch nehmen möchte oder
nicht. Populäre Suchmaschinen wie Lycos oder Yahoo kündigen aber an,
bald nur noch PICS-registrierte Angebote zu verzeichnen. Damit wären
Webmaster, die ihre Seiten einer möglichst großen Zahl von Surfern
zugänglich machen wollen, gezwungen, die Inhalte schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb
PICS-kompatibel und möglichst jugendfrei zu gestalten." (229)
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(220) Das Word Wide Web Consortium (W3C) ist ein internationales Branchenkonsortium, das technische Spezifikationen wie HTML und Mustersoftware für Online-Anwendungen entwickelt und damit einheitliche Standards für das Internet setzt.
(221) Eine kompakte Einführung in die Funktionsweise von PICS sowie in die mit der Technologie verbundenen Probleme ist zu finden bei Gruhler, Alexander: PICS - eine moderne Version der Zensur? IN: Telepolis vom 7.5.1998. Online im Internet 1998. URL: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/1464/1.html [Stand 22.8.1998]; vgl. ferner Miller, James/Resnick, Paul: PICS: Internet Access Controls Without Censorship. Online im Internet 1996. URL: http://www.w3c.org/PICS/iacwcv2.htm [Stand 22.8.1998]; Weinberg, Jonathan: Rating the Net. Online im Internet 1997. URL: http://www.msen.com/~weinberg/rating.htm [Stand 22.8.1998]; Platform for Internet Content Selection (PICS) - (Homepage des "World Wide Web Consortium"). Online im Internet 1998. URL: http://www.w3.org/PICS/ [Stand 22.8.1998].
(222) PICS ist allerdings nicht auf das WWW beschränkt, sondern kann auch FTP-, Gopher- und Newsgroup-Inhalte beschreiben.
(223) http://www.safesurf.com/
(224) http://www.rsac.org/
(225) Die PICS-Implementierung im Browser ist allerdings nicht die sicherste Lösung, denn das findige Töchterchen oder Söhnchen könnte ja einfach einen neuen Browser installieren und somit die Anstands-Sperre umgehen.
(226) Vgl. Illegale und schädigende Inhalte im Internet, a.a.O., S.24.
(227) Vgl. Grünbuch über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde in audiovisuellen und den Informationsdiensten. Online im Internet 1996 (HTML, RTF, Word). URL: http://www2.echo.lu/legal/internet.html [Stand 22.8.1998], S.22. Gruhler nennt für Mai 1998 weltweit 65.000 WWW-Seiten, was ein verschwindend geringer Bruchteil aller verfügbarer Web-Sites ist; vgl. Gruhler, Alexander, a.a.O. Die Zeitschrift Internet Intern bezifferte für Anfang September 1998 die Zahl der bei RASCi registrierten Sites auf 50.000; vgl. PICS? NoPICS? IN: Internet Intern vom 18/1998 vom 3.9.1998. Online im Internet 1998. URL: http://www.intern.de/98/18/03.shtml [Stand 3.9.1998].
(228) Vgl. Gröndahl, Boris: Privatisierung der Zensur, a.a.O.
(229) Gruhler, Alexander, a.a.O.
© Tobias Gehle, 1998
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