|
Über welche Lese- und Schreibfertigkeiten verfügen Kinder in den
verschiedenen Altersstufen zwischen 6 und 13 Jahren? Diese Frage kann ich an
dieser Stelle wissenschaftlich nicht eingehend erörtern. Eine halbwegs seriöse
Betrachtung würde die theoretischen Grundlagen für die Entstehung von
Sprache im Kindesalter einschließen müssen, ebenso eine Auseinandersetzung mit den
wesentlichen in der Vergangenheit durchgeführten Studien zur Entwicklung von
Lese- und Schreibkenntnissen. In diesem Bereich ist - so mein Eindruck
nach einer groben Sichtung der Literatur - viel geschrieben, aber wenig Einigkeit
erzielt worden. (70)
Ich fasse statt dessen hilfsweise kurz die curricularen Richtlinien
für den Erwerb von Lese- und Schreibkenntnissen in der Grundschule zusammen.
Exemplarisch betrachte ich die verbindlichen Zielvorgaben des Lehrplans
für das Unterrichtsfach "Sprache" in Nordrhein-Westfalen.
Ich beschränke mich auf die Grundschule, da hier wesentliche Grundlagen
für schriftsprachliches Handeln vermittelt werden und im
Normalfall davon auszugehen ist, daß Kinder beim Übergang in die weiterführende Schule
die beiden Kulturtechniken Lesen und Schreiben beherrschen.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Curricula per se nur sehr
grobe Einschätzungen erlauben, über welche Fähigkeiten nach diesen Richtlinien
unterrichtete Kinder tatsächlich verfügen. (71)
Selbstredend gibt es innerhalb der unterschiedlichen Altersstufen mitunter
erhebliche Unterschiede. (72)
Der NRW-Lehrplan "Sprache" für die Grundschule unterscheidet vier integrativ angelegte Teilbereiche des Spracherwerbs: (73)
Von Interesse sind an dieser Stelle nur die Zielvorgaben für die beiden letztgenannten "Disziplinen".
Basisqualifikation für das Lesen ist die Fähigkeit, einzelnen Buchstaben die
entsprechenden Laute zuzuordnen. Dafür müssen die Kinder zunächst den
Aufbau der Buchstaben als visuelle Einheiten (Grapheme) verinnerlichen und sie
mit den Lauten (Phonemen) in Verbindung bringen können, die sie bereits aus
ihrer vorschulischen Sprachtätigkeit kennen. Diese Fähigkeit erwerben die
Kinder in der Regel während der ersten Wochen des Erstleseunterrichts. Sie
lernen die elementaren Laut-Buchstabe-Beziehungen kennen und später auch allmählich
die Abweichungen von den Grundregeln.
Ausgestattet mit diesen wesentlichen Qualifikationen müssen die
Kinder nun die Fähigkeit erwerben, Wortgestalten, Sätze und Texte auditiv und
visuell durchzugliedern und Sinnzusammenhänge zu erfassen, um so die erworbenen
Lesefertigkeiten erweitern zu können: "Die Lesefertigkeit wird allmählich
ausgebaut: Zunächst erlesen die Kinder einfache lauttreue Wörter,
die ihnen von der Bedeutung her bekannt sind. Sie erlesen dann
einfache Sätze und kurze Texte. Sie lesen schließlich vorausschauend und
übergreifend aufgrund bekannter Satzmuster und inhaltlicher Sinnerwartung.
Mit zunehmender Lesefertigkeit werden auch seltenere Buchstaben und -gruppen in
Wörtern erlesen und Wörter durch Kontextlesen erschlossen." (74)
In den curricularen Bestimmungen wird wiederholt darauf hingewiesen,
daß Kinder ausgesprochen unterschiedliche Voraussetzungen für das Lesen-
und Schreibenlernen in die Grundschule mitbringen und aus
diesem Grunde der Unterricht stark zu differenzieren sei.
Die Unterschiede im Lerntempo sind sehr groß und durch
fördernde pädagogische Maßnahmen soweit auszugleichen, daß Kinder zu bestimmten
Zeitpunkten die im Lehrplan formulierten Zielvorgaben erreichen:
"Am Ende der Klasse 1 sollen alle Kinder in der Lage sein, ihnen vom Sinn
her bekannte, lauttreue und kurze Wörter in Sinnzusammen-hängen zu erlesen.
(...) Am Ende der Klasse 2 müssen alle Kinder kurze, kindgemäße Texte lesen,
verstehen und vorlesen können. Die Fähigkeiten sind unterschiedlich ausgeprägt,
müssen aber beim UMGANG MIT TEXTEN eine erfolgreiche Mitarbeit ermöglichen." (75)
Mit dem Eintritt in die dritte Klasse, ungefähr im Alter von acht Jahren,
sollten Kinder also über die grundlegendsten Lesefertigkeiten verfügen.
In der zweiten Hälfte der Grundschulzeit werden diese Fähigkeiten ausgebaut.
Ferner werden Kinder im Umgang mit Texten geschult. Die Kinder müssen sich
mit umfangreicheren Texten auseinandersetzen, entwickeln dabei die
Fähigkeit, Texte zu bewerten und für individuelle Zwecke zu nutzen.
Sie werden auch mit verschiedenen Lesetechniken vertraut gemacht,
die den Textaufbau transparent machen und Verständnis für verschiedene Textsorten
entwickeln helfen. "Im Bereich schriftsprachlicher Texte werden Lesetechniken
eingesetzt wie genaues Lesen, Nutzen von Lesehilfen (Einteilung in Sinnabschnitte,
Klärung unbekannter Wörter aus dem Zusammenhang oder mit dem Lexikon,
Unterstreichen, Gliedern, Auflösen komplexer Texte) sowie Anlesen und
überfliegendes Lesen." (76) Diese Analyse-Techniken sollen die Kinder
in die Lage versetzen, schließlich selbst Texte zu produzieren,
die den gelesenen ähneln.
Schreiben können müssen Kinder laut NRW-Lehrplan "Sprache" nach Abschluß der Grundschule in zwei verschiedenen Formen: in einer "verbundenen Verkehrsschrift" (Schreibschrift) und in der Druckschrift. Im Vordergrund steht zunächst das Erlernen einer normierten Schreibschrift. Als Richtziele gibt der Lehrplan vor:
Rechtschreiben ist von Beginn an integrativer Bestandteil des
Schreibunterrichts. Um die Schülerinnen und Schüler mit den Grundregeln
vertraut zu machen und ein erreichbares Ziel vorzugeben, wird die Zahl
der Wörter, welche die Kinder richtig schreiben können müssen,
auf einen modellhaften Grundwortschatz beschränkt. Am Ende der zweiten
Klasse soll dieser Grundwortschatz 300 Wörter umfassen, im Laufe
der Klassen 3 und 4 wird er auf 1000 ausgeweitet. In den letzten beiden
Grundschulklassen rückt mehr und mehr das Erlernen der grundlegenden Rechtschreibregeln
in den Vordergrund.
Welche Schreibfertigkeiten Kinder im einzelnen auf welchen Klassenstufen der
Grundschule erlernen, geht aus der Tabelle
zu den Rechtschreib-Zielvorgaben vor, die ich aus dem Lehrplan "Sprache"
übernommen habe.
|
(70)
Folgende Standardwerke sind zu empfehlen für die eingehende Auseinandersetzung
mit den theoretischen Grundlagen der Entwicklung von Sprach-, Lese- und
Schreibkompetenz bei Kindern (kognitive Dispositionen im Kindesalter,
Zusammenhang zwischen geschriebener und gesprochener Sprache,
verschiedene Modelle des Spracherwerbs):
Szagun, Gisela: Sprachentwicklung beim Kind. 6. Aufl. Weinheim 1996.
Ehlich, Konrad (Hrsg.): Kindliche Sprachentwicklung. Konzepte und Empirie.
Opladen 1996.
Brügelmann, Hans: Kinder auf dem Weg zur Schrift. Eine Fibel
für Lehrer und Laien. Bottighofen 1992.
(71) Lehrpläne stellen lediglich einen weit gefaßten Handlungsrahmen für die pädagogische Tätigkeit dar, auch wenn sie verbindliche Zielvorgaben enthalten. Diese wiederum unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland zum Teil erheblich. Zu den nordrhein-westfälischen Bestimmungen sei ferner angemerkt, daß diese hoffnungslos veraltet sind: Die heute geltenden Richtlinien für den Sprachunterricht in der Grundschule sind seit 1985 nicht mehr überarbeitet worden.
(72) Dies illustrieren eindrucksvoll Klicpera und Gasteiger-Klicpera. Sie führten - erstmals im deutschen Sprachraum - eine Langzeitstudie zur Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz durch, die acht Klassenstufen abdeckte. Ihre Darstellungen geben einen guten Überblick darüber, welche Grundfertigkeiten Kinder in der Grundschule erwerben und illustruieren insbesondere den enormen Fortschritt der Kinder im ersten Schuljahr. Es wird auch deutlich, daß sich im Erstlese-Unterricht auftretende Schwächen häufig bis in die weiterführende Schule fortsetzen. Vgl. Klicpera, Christian/Gasteiger-Klicpera, Barbara: Lesen und Schreiben. Entwicklung und Schwierigkeiten. Die Wiener Längsschnittuntersuchungen über die Entwicklung, den Verlauf und die Ursachen von Lese- und Schreibschwierigkeiten in der Pflichtschulzeit. Bern 1993.
(73) Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Sprache. Düsseldorf 1985 (Veröffentlichung der 1. Auflage).
© Tobias Gehle, 1998
|